Station3

Letzte Lebensphase

Koesslers Schilderung der Hintergründe seiner Rückkehr nach Budapest liest sich folgendermaßen [1]

In Ungarn gelangte an die Regierung die Commune und stellte die Auszahlung meiner gesetzlichen Pensionsbezüge ein und nötigte mich, der dringenden Aufforderung des derzeitigen Akademiedirektors Jenö Hubay, die Kompositionsklasse zu übernehmen, Folge zu leisten. Im Herbst 1920 kehrte ich nach Ungarn zurück, hoffe aber in nicht zu langer Zeit nach Deutschland zurückzukehren und dort mein Leben abschließen zu können.

Agnes Gádor, langjährige Bibliothekarin der Musikakademie Budapest, zitiert aus den Jahrbüchern der Akademie. Sie schreibt über Koesslers 2. Amtsperiode als Kompositionslehrer an der Musikakademie Budapest (1920-1925) folgendes [2]:

„Niemand konnte ahnen, dass der Abschied von Koessler nicht endgültig sein würde.“

Die offizielle Begründung der Reaktivierung von Koessler geht aus einem Schreiben vom 1. Juni 1920 des damaligen Direktors Jenő Hubay an den Kultusminister hervor:

„Die schädliche Wirkung der destruktiven geistigen Strömungen der letzten Jahre beeinflusste die künstlerische Arbeit der Musikakademie negativ. […]Die talentierten jungen Komponisten, die nach dem Tod von Viktor Herzfeld das Unterrichten des Faches Komposition übernahmen, konnten mit bestem Willen und Anstrengungen die krankhaften Bestrebungen, die sich in den geistigen Werken der in ihren Seelen gestörten Studenten zeigten, in der letzten Zeit nicht verhindern. Deshalb halte ich es im Interesse der Zukunft unseres musikalischen Schaffens unbedingt für notwendig, dass die Führung dieses wichtigen Lehrstuhls wieder in die Hände des Mannes genommen wird, der mit seinem unbestreitbar großen Ansehen Jahrzehnte lang mit ernsthaftem Elan und glanzvollem Erfolg die heutige einheimische Komponistengeneration gebildet und erzogen hat, welche zur Ehre im In- und Ausland sowohl für unser Institut als auch für sich selbst herangereift ist. […]“

Agnes Gádor resümiert folgendermaßen [3]:

„Die Ursache der Wiederberufung Koesslers war also die Rettung des „gesunden Konservatismus“ der durch die Ereignisse von 1918/19 aufgewühlten Hochschule. [4] Ab Studienjahr 1920/21 übernahm also Koessler die Führung des Meisterkurses im Fach Komposition, wo er 1920/21 zwei Schüler im ersten Studienjahr hatte. Komposition lehrten außer ihm noch Albert Siklós an der Akademie und Léo Weiner im Vorbereitungskurs.“

Tod in Ansbach

Der Brief von Oberlandesgrichtsrat Vocke an Oberdirektor Hubay sei hier in voller Länge zitiert. Mit Franz Xaver Staudigl – der die Quelle auftat – teile ich die Meinung: „Es ist ein erschütterndes Dokument über den letzten Lebensabschnitt des Künstlers.“ [5]

Ansbach, den 28. Mai 1926

Sehr geehrter Herr Oberdirektor!

Ihrem Wunsche entsprechend, näheres über die letzte Lebenszeit des Professors v. Koessler zu erfahren, entspreche ich gerne. Freilich weiß ich nicht allzu viel, was über Äußerlichkeiten hinausginge und von der Kunst so gut wie nichts. Nehmen Sie also bitte vorlieb. Es war im Frühjahr 1918, daß H. v. K., wie man hört, auf Anregung des mit ihm schon von Jugend her befreundeten, aber jetzt schon verstorbenen Regierungsschulrat Hopf in Ansbach, hierher gegangen ist. Da er abends regelmäßig in der Wirtschaft zum „Goldenen Lamm“ von Georg Dürr verkehrte, fand dessen aufmerksame und herzensgute Frau Gelegenheit zu Beobachtungen, die sie auf den Gedanken führten, es möchte der einsame ehrwürdige alte Herr Not leiden. Erkundigungen, die sie bei einer Hausfrau einzog, bestätigten, daß Herr v. K. buchstäblich hungerte. Frau Dürr verstand es nun, mit menschlichem Feingefühl und weiblicher Klugheit seinem Bedürfnis zu Hilfe zu kommen und seine Verpflegung günstiger zu gestalten, ohne dabei der Vornehmheit seines Wesens zu nahe zu treten. Gerne würde sie ihn schon damals ganz zu sich gebeten haben, hätte sie nicht den Schein der Aufdringlichkeit vermeiden wollen. Andererseits hielt auch ihn lange die Scheu vor der Selbstlosigkeit seiner Freunde zurück, bis die ihm, gelegentlich einer Erkrankung, von Frau Dürr erwiesene Fürsorge den Bann brach. Von da an nahm er volle Pflege im Haus Dürr und bezog am 1. 11. 1918 zwei ihm dort zur Verfügung gestellte Zimmer, nicht eben groß, aber höchst sauber und behaglich. Seine Verhältnisse, von denen er wenig sprach, waren damals äußerst mißlich. Er erhielt weder Pension aus Ungarn noch Zinsen aus seinem dort liegenden Vermögen, das sich nach seiner Angabe auf über 200 000 Kr. [6] belaufen mußte. Immerhin war jetzt wenigstens für das Notwendigste gesorgt. Frau Dürr konnte von nun an ihre eifrige Fürsorge auch auf seine Kleidung und Wäsche erstrecken, die sich in völlig heruntergekommenem Zustand befanden. Herr v.K. lebte im Dürr’schen Hause sichtlich auf, wenn auch ein andauernd auf ihm lastender schwerer Druck nicht zu verkennen war. Seine Tageseinteilung war streng geregelt. Er stand um 8 oder 9 Uhr auf, frühstückte und komponierte dann von 9 bis 1 Uhr. Nach Tisch von 2 bis 4 Uhr pflegte er zu ruhen. Von 4 bis 6 Uhr folgte ein Spaziergang in den schönen Wäldern der Ansbacher Umgebung. Danach wurde noch 1 Stunde gelesen. Der Abend war der Gesellschaft seiner Gastgeber und weniger Bekannter gewidmet. Es fiel auf, daß er in der damaligen Zeit über die wichtigste Angelegenheit seines Herzens, über Musik, so gut wie gar nicht sprach. Seit Weihnachten 1919 begannen dann die Unterhandlungen wegen des Wiedereintritts in sein Lehramt in Budapest. Es folgte eine Wiederanstellung vom 1. 9. 1920 an. Beim Abschied nannte er das Haus Dürr sein zweites Elternhaus und versprach wieder zu kommen. Nach einem vorübergehenden Besuch im Januar 1925 fand dieses Versprechen im Dezember des Jahres seine Erfüllung. Herr v. K. erschien jetzt ganz verwandelt und verjüngt. Nun erst lüftete der überbescheidene Mann auch gegenüber der Familie Dürr in gewissem Maße sein Inkognito, indem er einzelne Tatsachen verlauten ließ, die bestimmtere Schlüsse auf seine soziale und künstlerische Stellung ermöglichten. Mit besonderer Vorliebe erzählte er von seinem Freunde, Herrn Oberdirektor Hubay und dessen Familie. Sein Leben vollzog sich in denselben schlichten und zurückgezogenen Formen wie früher. Zwar Herr Reg. Schulrat Hopf war [Satzbau: sic!] im Frühjahr 1925 gestorben. Einige neue Bekannte stellten sich ein. Unter ihnen ist besonders Herr Oberarzt Dr. Lunckenbein, der Vorstand des Städt. Krankenhauses, zu nennen, der als ein musikalisch hochgebildeter Mann, der mehr als andere geeignet war, eine gewisse Resonanz für das allerdings stark zurückgehaltene künstlerische Mitteilungsbedürfnis des Meisters zu bieten. Im allgemeinen sprach Herr v. K. wenig. Die Vornehmheit seines zugleich doch so gütigen Wesens hielt auch bei seiner Umgebung triviale Redelust zurück. Auf den Titel „Freund“ konnte wohl keiner der Herren, die mit ihm verkehrten, Anspruch erheben.

Am 25.4.1926 hat Herr v. K. seinen letzten Spaziergang gemacht. Am darauffolgenden Tag mußte er wegen heftiger Schmerzen im rechten Fuß ärztlichen Rat in Anspruch nehmen. Zunächst schien es sich nur um eine leichte Venenentzündung zu handeln. Doch stellte sein nach einigen Tagen herbeigerufener Neffe Dr. Bogner eine weit fortgeschrittene Arterienverkalkung fest. Eine furchtbare Überraschung für jeden, der sich an dem blühenden Aussehen des schönen und rüstigen Greises gefreut hatte. Die Krankheit führte unter heftigen, aber mit heroischer Geduld ertragenen Schmerzen zu einem allmählichen Absterben des Fußes. Nach einstimmiger Begutachtung von fünf Ärzten erfolgte am Dienstag, 11. Mai die Überführung ins Krankenhaus zum Zweck der unvermeidlich gewordenen Operation. Vorher spielte sich eine erschütternde Scene ab. Dr. Lunckenbein hatte Herrn Professor v.K. getröstet und ihm für den Fall seiner gelungenen Operation die Möglichkeit eines längeren Lebens in Aussicht gestellt. Da richtete sich der alte Herr in den Armen von Frau Dürr im Bette auf und beschwor dem Arzt unter Tränen ihm den einzigen Wunsch zu erfüllen, er möge ihn noch zwei Jahre leben lassen damit er seinen künstlerischen Nachlaß ordnen könne. Er habe seine Manuskripte in der ganzen Welt verstreut und müsse überall noch die letzte Hand anlegen. Dazu brauche er noch zwei Jahre. Dr. L. versprach ihm seinerseits behilflich zu sein, ihm als Kopist zu dienen u.s.w. Am Mittwoch, 12. 5. früh 10 Uhr nahm Dr. L. die Operation vor. Der rechte Fuß wurde unterhalb des Knies abgenommen. Herr Professor v. K. hatte sich damit abgefunden. Auch waren die Schmerzen zunächst behoben. Aber nur auf kurze Zeit. Die Krankheit war schon zu weit fortgeschritten und ging unaufhaltsam ihren Weg. Der „Altersbrand“ griff auf eine durch den Druck des Liegens besonders gefährdete Stelle an der Rückseite des Körpers über. Gräßliche Schmerzen verzehrten den letzten Rest der Kraft. Allmählich stellten sich auch geistige Ausfallerscheinungen ein. Das Gedächtnis ließ nach. Vom 20. Mai an war er nur noch wenig bei Bewußtsein. Der Rest seines Vorstellungslebens war allein von der Musik beherrscht. Noch in seiner letzten Stunde – er starb [am] Pfingstsamstag 23. 5. früh 4 Uhr – nannte er den Namen Brahms. Unvergleichlich schön war das Bild, das der Tote bot. In blühender Fülle, ohne eine Spur der überstandenen Leiden, wie träumend von ewigen Melodien, lag sein Haupt auf den Kissen. Die Beerdigung fand am Pfingstdienstag nachmittags 4 Uhr statt. Sie verlief schlicht und würdig in den Formen des kath. Ritus. Nach Verlesen eines kurzen, von mir verfaßten Lebenslaufs hielt Stadtpfarrer Geistl. Rat Sponsel eine feine Predigt über den Text Luc. 19 V. 18. Ein schöner Männerchorgesang unter Leitung von Musikdirektor Lohmann gab die künstlerische Weihe. Lebenslauf und Grabrede sowie ein von meinem Sohn aufgenommenes Lichtbild des Toten werden Ihnen noch zugehen.

Ich selbst habe Herrn v.K. erst in den letzten Wochen vor seiner Krankheit kennen gelernt. Frau Dürr, in deren Wirtschaft ich einmal zufällig war, erzählte mir von ihm und sagte, daß er sich über eine von mir verfaßte Besprechung eines Vortragsabends seines Freundes Ludwig Müller gefreut habe. Hiedurch zu einem Annäherungsversuch ermuntert, stellte ich mich eines Abends vor, fand liebenswürdigste Begegnung und verbrachte ein paar ebenso angenehme als interessante Stunden in seiner Gesellschaft. Um nicht aufdringlich zu erscheinen, wiederholte ich einen solchen Besuch erst nach längerer Zeit. Wir unterhielten uns über Literatur, Kunst und Philosophie. Von Anfang an hatte mich die ganze Persönlichkeit mir ihrer alle Hüllen bescheidener Schlichtheit durchstrahlenden Würde an den Archivarius Lindhorst, den „Geisterfürsten“ im E. T. A. Hoffmanns „Goldenem Topf“ gemahnt. So kam ich unwillkürlich darauf, unser erstes Gespräch auf diesen Dichter und Musiker zu lenken und fand auch richtig die erwartete freudige Sympathie. Doch glaube ich trotz Herrn v. Ks. Eminenter Feinfühligkeit nicht, dass seine Bescheidenheit das Motiv geahnt hat, das mich, ihm gegenüber, auf Hoffmann verfallen ließ. Das allergrößte Interesse und wahrhaft begeisterte Zustimmung brachte Herr v. K. Spengler entgegen. Ich habe ihm kurz vor der Krankheit einige Bücher geliehen, die ihm Freude zu machen schienen. Das ihm werteste besaß er selbst: Die Bibel. Während seiner Krankheit habe ich ihn noch einigemal zu Hause und im Krankenhaus besucht und mußte dabei sein Leiden mitansehen ohne etwas für ihn tun zu können. Ein teilnehmender Händedruck und Blick, ein frischer Strauß aus dem Garten: Das war alles.

Das Beste, was einem Menschen widerfahren kann, selbstlose liebevolle Hingabe, ahnungsvolle Verehrung und tatkräftige Treue hat ihm die Familie Dürr, insbesondere seine treffliche Wirtin, bis zu allerletzt gewidmet. Diesen Wert hat sein für echtes und reines Menschentum soweit aufgeschlossene Gemüt in seiner ganzen Tiefe empfunden. Wenn irgend wann einmal Ansbach ein Gedenkzeichen für Herr v. K. halten sollte, so dürfte es nirgends anders hinkommen als an das kleine anheimelnde Gasthaus „zum Goldenen Lamm“ [7], das dem großen Menschen neben der ersehnten Ruhe der letzten Lebenstage ein menschliches Kleinod geschenkt hat, dessen Glanz auch durch keinen Künstlerruhm verdunkelt werden könnte. Gestatten Sie, Herr Oberdirektor, den Ausdruck meiner vorzüglichsten Wertschätzung, die ich Ihnen vor aller Konvention als dem Freunde Herrn v. Ks. Entgegenbringe und womit ich Sie begrüße als

Ihr ganz ergebenster

gez.: Gottfried Vocke

Oberlandesgerichtsrat.

Hans von Koessler auf dem Totenbett

In Ansbach steht seit 23.06.2013 das von Vocke im Brief geforderte Denkmal an der von ihm geforderten Stelle. Frau Gunda Schricker (3. v. l.) sei herzlicher Dank dafür, sowie für das Konzert am selben Tag, ihr „Büchle“ Hans Koessler. Ein Komponist wiederentdeckt, Ansbach 2013, sowie das würdige Herrichten des Koessler-Grabes.

Denkmal Hans von Koesslers in Ansbach

[1] Kurze Autobiographie des Waldecker Komponisten Hans von Koeßler. In: Pearl Harbour, Pech und Löwenkopf. Regionale Streiflichter zur Geschichte unserer Heimat. HEIMAT – Landkreis Tirschenreuth, Band 13/2001, Seiten 70-77.P. Peter Knott merkt an, Josef Bothner aus Waldeck habe die Kurzbiographie Koeßlers 1964 mit der Schreibmaschine abgetippt.

[2] Gádor, Ágnes (1992). Hans Koessler tanári működése a Zeneakadémián (1882-1908 és 1920-1925) = Hans Koesslers Lehrtägigkeit an der Musikakademie (1882-1908 und 1920-1925), in: Fejezetek a Zeneakadémia Történetéből = Kapitel aus der Geschichte der Musikakademie, Bd. 4, S. 69-124. Liszt Ferenc Zeneművészeti Főiskola = Franz Liszt Musikhochschule, Budapest. S. 117. Herzlicher Dank ergeht an László Peter für die Übersetzung!

[3] Ebd., S. 118.

[4] Anmerkung des Übersetzers Lászlo Peter: 1918/19 herrschte auch in Ungarn die Räterepublik. Darauf spielt Hubay sicherlich an.

[5] Der gesamte Brief wird in voller Länge zitiert von Staudigl, Franz Xaver (1985). Ins Wirtshaus ein Denkmal… Ein Beitrag zur Musikgeschichte der Oberpfalz, in: Die Oberpfalz. 73. Jahrg., Heft 10, S. 305-307. Kallmünz: Michael Laßleben Verlag.

[6] Anmerkung Josef Brunner: Wechselkurs: (fix) 1 Gulden = 2 Kronen (österr. Währung ab 1882). Informationen dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96sterreichischer_Gulden, 10.11.2018. Laut https://www.1133.at/document/view/id/475, ebenfalls abgerufen am 10.11.2018, hatte der Gulden folgende Kaufkraftparität zum Euro: 1 Gulden ⩯ 20,2 Euro => 1 Krone ⩯ 10,1 Euro. Somit hätte sein Vermögen einen Gegenwert von mehr als 2 Millionen Euro heutigen Geldwertes gehabt!

[7] Anm. Brunner: Seit 2013 findet sich – dank des Einsatzes von Gunda Schricker – nun dieses Denkmal vor dem Goldenen Lamm!