Das Leben der Lehrerfamilie Kößler in Waldeck – von vielfältigen Aufgaben geprägt
In seiner Autobiographie stößt man auf vielfältige Tätigkeiten des jungen Hans Koessler – damals nach dem Taufnamen seines Vaters wohl immer noch als „Johann Kößler“ bezeichnet. Heutzutage würde man seine vielen Tätigkeiten, mit denen er seinen Eltern, v. a. dem Vater Arbeit abnahm, sicherlich als Kinderarbeit brandmarken.
Bevor wir jedoch den erwachsenen Hans zu Wort kommen lassen: die Situation des Vaters. Sie wird uns geschildert in einem Werk des Waldecker Heimatforschers Dr. Anton Reger [1]:
„Die kgl. Regierug ordente im Jahre 1852 [ein Jahr vor Hans‘ Geburt] die Aufhebung der „Winterschulen“ in den Dörfern Atzmannsberg, Guttenberg und Bingarten an, in denen die Kinder nur in jenen Monaten Unterricht erhielten, in denen es auf den Feldern und Wiesen nichts zu bestellen und einzubringen gab.
In welcher Lage ich der Lehrer Joh. Kößler nunmehr befand, als er einen „Zuwachs“ von 35 Werktagsschülern und 36 Feiertagsschülern erhielt, läßt sich durch eine „Zahlensprache“ verdeutlichen: Auf einer Fläche von 57 Quadratmetern mußten 128 Werktagsschüler bzw. 127 Feiertagsschüler Platz finden! […]
In der Zeit zwischen 1852 und 1860 stieg die Zahl der Schüler auf 150 an. Auf einen Quadratmeter mußten nunmehr mindestens drei Schüler Platz finden.“
Die Situation war im Grunde bereits unerträglich: für Lehrer Kößler und seine Schüler.
Zurück in das älteste Schulhaus Waldeck: selbst die Eingabe des kgl. Distriktschulinspektors, Pfarrer Emanuel Bachmeyer, am 20. September 1852 änderte nichts an dieser Situation.
Mehr als 7 weitere Jahre waren vergangen als am 27. Juli 1860 der kgl. Baumeister eine Besichtigung der Räumlichkeiten der Schule vornahm und sein Ergebnis wenig später dem kgl. Landgericht mitteilte. Seiner Ansicht nach böte die Lokalität nicht für 150, sondern nur für 100 Kinder Platz. So schreibt Dr. Reger weiter:
„Der „Situationsplan“ der Baubehörde lag nunmehr dem kgl. Landgericht vor. Die „Situation“ im 57 Quadratmeter großen Schulsaal aber dauerte fort – und sie dauerte noch 25 Jahre fort. Erst im Jahre 1885 öffnete sich die Pforte eines neuen Schulhauses mit zwei geräumigen Lehrsälen und einer Dienstwohnung für einen zweiten Lehrer.„
Im Jahre 1885! Lehrer Johann Baptist Kößler, Hans Koesslers Vater, stand damals zwei Tage vor seinem 66. Geburtstag! [2]
Die weiteren Aufgaben Johann Baptist Kößlers, die damals ein Dorfschullehrer „selbstverständlich“ miterledigte, nun in Kurzform. Kößler versah zu seiner Haupttätigkeit zusätzlich noch die Dienste als Organist, Meßner, Marktschreiber [3] und Ungeldgegenschreiber [4]. Die Tätigkeit als „Chorregent“ ist bei Dr. Reger offensichtlich selbstverständlich mit inbegriffen.
Verwunderlich ist nicht, dass Vater Kößler für seine vielfältigen Tätigkeiten Ablösung suchte. Er fand sie in seinen Kindern. Lehrer Johann Baptist Kößlers ältester Sohn – unser Komponist Hans Koessler – schildert dies eindrücklich in seiner Autobiographie. Hier eine längere Passage aus Koesslers Memoiren.
„Schon dem dreijährigen Kinde wurde die Aufgabe zugewiesen, Aufseher, Pfleger und Wärter meiner nachgeborenen Geschwister zu sein. Fünfjährig wurde ich zum Dirigenten einer 20köpfigen, schnatternden Gänsetruppe ernannt. Nach einigen Jahren wurde mir die etwas schwierigere Aufgabe anvertraut, Leiter eines Horntrios zu werden, zwei Kühen und einem Kalbe. Etwas größer und kräftiger geworden wurde ich auch in die Geheimnisse der Agrikultur eingeweiht. Ich durfte dreschen, säen und ernten. Meine verlassenen Posten übernahmen dann immer meine nachrückenden Brüder. Dabei durfte auch die Schule nicht versäumt werden.
Außer diesen Hauptbeschäftigungen gab es auch noch Nebenbeschäftigungen, allerdings ohne Nebeneinkommen. Mein Vater war Lehrer von ca. 160 Schulkindern, zugleich aber auch in herkömmlicher Weise Chorregent, Organist, Mesner und Gemeindeschreiber mit einem fassionsmäßigen Gesamteinkommen von jährlich 396 Gulden, zudem auch Besitzer von 8 eigenen Kindern. In allen diesen Ämtern durfte und konnte ich ihn, wenn er abwesend war, vertreten.
Bei Leichenbegängnissen sang ich dann das Miserere und die lateinischen Responsorien. Wenn mein Vater beim Gottesdienst in der Sakristei als Mesner fertig war und sich nach dem Chor verfügte, so stellte ich mich mit einem Fuße auf die tiefste Pedaltaste und hielt diesen Orgelpunkt solange fest, bis er mich ablösen konnte. Bald guckte ich ihm seine Handgriffe ab und machte sie mir zu eigen, und es dauerte gar nicht lange, so war ich imstande, den bezifferten Baß ohne jede Kenntnis einer Harmonielehre auf der Orgel zu traktieren. Spezielle Orgelbücher gab es nicht. So war ich ganz von selbst aufs freie Phantasieren angewiesen und nach den Zeugnissen des Herrn Pfarrers soll mir dies sogar besser gelungen sein als meinem Vater. Übernahm mein Vater selber den Orgelpart, so sang ich bei Messen die Altstimme. Das „Vom-Blatt-Singen“ war mir selbstverständig [!] und es war mir unverständlich, wenn der Tenorist und der Bassist (wenn solche da waren) falsch sangen.
Als Mesner musste ich mich auch betätigen. Die liturgischen Verrichtungen und Ceremonien lernten sich leicht, da ich schon frühzeitig bei stillen Messen als Ministrant zu dienen hatte. Beim Ankleiden des Priesters mußte sich dieser allerdings sehr tief vor dem kleinen Knirps bücken. Bei der Taufe von illegitimen Kindern fiel mir die ausschließliche Vertretung meines Vaters zu. Bei einer solchen durfte keine Glocke geläutet [werden] und kein Pate anwesend sein. Nur die Hebamme brachte das Kind in die Kirche und ich mußte die Funktionen eines Mesnern und des Paten zugleich übernehmen. Das Waldecker Kirchenbuch mag auf diese Weise oftmals meinen Namen eingetragen halten.
Mit der Gemeindeschreiberei wurde ich auch frühzeitig bekannt. Da mein Vater 4 verschiedene Gemeinden zu versehen hatte, so mußte ich die Duplikate ausfertigen. Aber auch selbständig stellte ich in Abwesenheit des Vaters die Vermögens- und Leumundszeugnisse aus. Leicht und unverantwortlich war die Ausstellung von „Vermögenszeugnissen“. Da nur arme Teufel ein solches nötig hatten, so genügte eine Schablone für alle Fälle. Etwas riskierter [!] war die Ausstellung von Leumundszeugnissen, da bei diesen nicht nur arme Sünder, sondern auch besitzende Klassen in Betracht kamen. Unorientiert über die persönlichen Verhältnisse folgte ich meinem unerfahrenen, frommen Herzen, und jeder war ein Ehrenmann. Die Gemeindevorsteher unterschrieben die Schriftstücke anstandslos; vielleicht konnten sie auch meine Kinderschrift nicht entziffern.
Diese mannigfaltigen und vielen Beschäftigungen ließen mich wenig zur Musik kommen, obwohl mich nach derselben so verlangte. Auf diesem Gebiete war ich allerdings kein Glückskind. Nur allerbedenklichste Kirchenmusik in grausamer Wiedergabe und vulgärste Tanzmusik in dürftigster Besetzung und Ausführung lernte ich kennen.
Mein Vater war ein ganz leidlicher Violinspieler und wollte auch mich als Geiger ausbilden. Leider fehlte ihm jeder Begriff einer pädagogischen Methode. Eine Violinschule besaß er nicht, und so war er gezwungen, mir selbst einige Noten aufzuschreiben. Dann sollte gleich ohne jede Vermittlung zu den Violinduetten von Mayseder, die zufällig in seinem Besitz waren, übergegangen werden. Diese Duette waren für einen Anfänger viel zu schwer und mißglückten vollständig. Dies brachte den jähzornigen Mann, der so viel von meinem Musiktalent hielt, in solche Aufregung, dass er mich so schwer züchtigte, daß meine sanfte, seelengute Mutter gezwungen war, gegen jeden weiteren Musikunterricht energisch und mit Erfolg zu protestieren. Heimlich übte ich aber doch noch weiter auf der Geige und war dann doch imstande, bei Gelegenheit die zweite Geige bei Tanzstücken zu übernehmen.
Meine einzige Sehnsucht ging nach dem Klavier. In der Dachkammer stand ein kleines, ganz ruiniertes Spinett. Ich bat so lange und dringend, bis der Vater geneigt war, dasselbe einem Dorftischler zur Reparatur zu geben. Nun war ich selig. Eine Art Klavierschule fand sich. Sobald der Vater nicht zu Hause war, saß ich am Klavier und übte, nicht ganz resultatlos. Gar bald war ich befähigt, an Sonntagen unserer Magd, wenn wir zufällig allein waren, stundenlang vorzuphantasieren. Am liebsten hörte sie Tanzweisen.
Auch ans Komponieren dachte ich. Eine Skizze zu einer ganzen Messe entstand. Ein Tantum ergo und ein Ave Maria wurde aus- und aufgeführt.
Mit 12 Jahren verließ ich das Elternhaus und besuchte die Mittelschule in Weiden und Eichstätt. Damit hörte die Romantik der seligen Kinderzeit auf. War sie auch voll kläglichster Not und Entbehrung, ich war doch immer ganz zufrieden, weil mir nie der Gedanke kam, es könnte anders sein.
In der Erinnerung taucht sie immer als die glücklichste Periode meines Lebens auf und haftet daher besser im Gedächtnisse als alle anderen und späteren Erlebnisse.„
[1] „Aus der Geschichte der Pfarrei Waldeck (1200-1900), S. 125ff. Manuskript im Pfarrarchiv Waldeck.
[2] Quelle: Abschrift des Geburtseintrags für Hans Koessler (damals: „Johann Baptist Koessler“) in der Taufmatrikel Waldeck Bd. II. S. 11 von Pfarrer Malzer vom 17. Mai 1957; mit Angaben der Geburtsdaten seiner Eltern. Vater: 29.7.1819.
[3] Waldeck war damals noch eigenständige Marktgemeinde mit eigenem Bürgermeister und Gemeinderäten.
[4] Ungeld (mhd. ungelt… eigentl. = zusätzliche Geld-Abgabe, die nicht sein sollte…). Abgaben von 1 – 5 % auf Einfuhr und Verkauf von Lebensmitteln (Salz, Korn, Vieh, Fleisch, Wein, Bier). Wurde erstmals im 13. Jh. auf den Märkten und an den Stadttoren der Reichsstädte erhoben (Köln 1206). Gilt als älteste indirekte Steuer in Europa. Die Einzugsbeamten wurden Ungelter genannt. https://www.mittelalter-lexikon.de/wiki/Ungeld Abgerufen: 29.08.2020.